„Haut ab, hier will euch keiner“

Tausende machten in Wolfsburg klar, was sie von dem Neonazi-Aufmarsch halten: Gar nichts. Eine Reportage über einen bewegten Tag.Der Mann mit den halblangen braunen Haaren, mit Regenjacke und Rucksack ausgerüstet, brüllt sich die Seele aus dem Leib. „Nazis raus“, schreit er. Und „Haut ab, verpisst euch“. Immer wieder. Jeder Ruf wird mit einem Wippen des ganzen Körpers begleitet, so wie einst Franz Josef Strauß seine Reden hielt. Der Mann ist empört. Dahinten laufen sie, die ihn so aufregen.

Es ist kurz nach 15 Uhr in Wolfsburg. 100 Meter Luftlinie entfernt machen sich gerade die knapp 600 Neonazis vom Phaeno-Vorplatz auf, durch das abgesperrte Industriegebiet zu marschieren. Der Mann reckt sich noch einmal und stellt sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf den Tross zu erhaschen, mit den schwarz-weiß-roten Fahnen und den braunen Gedanken. „Euch will hier keiner“, ruft er und streckt beide Arme zum Autofahrer-Gruße in den Himmel. Als sich der Mann umdreht, huscht ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht.

10.15 Uhr Wolfsburg Hauptbahnhof

Wilfried Berg, Leiter der Polizeiinspektion Salzgitter/Peine/Wolfenbüttel, ist schon früh angereist. Er ist einer von 3000 Beamten, die Wolfsburg heute sicherer machen, die verhindern sollen, dass Neonazis und gewaltbereite Antifaschisten aufeinandertreffen.

Ein Anruf unterbricht das Gespräch. „Ich muss jetzt hier mal rangehen“, sagt Berg, nicht genervt, aber energisch. Berg leitet den Einsatz. Nicht den ganzen, wie er betont, aber einen heiklen Abschnitt. „So ein Einsatz ist wie eine Torte. Für das Tortenstück, das den Aufzug der Rechten überwacht, bin ich zuständig.“

Berg ist sich seiner Verantwortung bewusst. Und auch der Rolle, die die Polizisten haben. „Wir müssen diese Menschen schützen. So schwer es fällt und so unzumutbar es auch für uns ist, diese Parolen den ganzen Tag zu ertragen.“ Man habe die Aufgabe, darauf zu achten, dass hier keine Straftaten geschehen. „Wenn hier mit Gesten oder Plakaten gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoßen wird, schreiten wir ein.“

Gegen den Vorwurf der Antifa, deutsche Polizisten würden die Faschisten schützen, wehrt er sich. „Wenn die an der Macht wären, die wir heute schützen, wären wir doch die ersten, die verboten würden.“ Das müsse man auch den jungen Menschen sagen, die die Beamten an Tagen wie diesen pausenlos beleidigen würden.

Berg wollte an diesem Abend eigentlich in Berlin sein, beim DFB-Pokalfinale. Die Karte hat er abgegeben. Nun steht er in Wolfsburg, schützt die Demokratie und wartet auf Züge aus Magdeburg und Hannover. Im letzteren sollen 800 Personen sein. Links- und Rechtsextremisten, dazwischen die Bundespolizei.

11.30 Uhr: Parkplatz am Hauptbahnhof

Etwa 200 Bürger beobachten die Situation hier. Die Polizei hat den Bahnhof massiv abgesperrt. Der Zugang für Reisende zu den Gleisen wird immer wieder gestoppt. Das bekommt auch eine Familie mit zwei schweren Koffern und einem Kinderwagen zu spüren. Eine Polizistin stellt sich ihnen in den Weg. „Wir müssen heute nur noch bis nach Berlin. Unser Flieger geht erst morgen. Das schaffen wir schon“, sagt der Mann, nachdem er freundlich abgewiesen wurde.

Einige Demonstranten sind vermummt, mit dicken Sonnenbrillen und schwarzen Kapuzenpullis. In die meisten Gesichter kann man allerdings schauen. Sie sind entschlossen. Bunte Fahnen wehen. „Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg“ ist dort zu lesen. „Respekt“ steht auf vielen T-Shirts und auch das Bündnis Schulterschluss ist da.

Christa Westphal-Schmidt bekennt sich dazu. Sie sei zwar mit der SPD in Wolfsburg verbunden. Heute, sagt sie, sei sie aber als Privatperson hier. „Gesicht zeigen“, nennt sie das. „Ich will wie die meisten Menschen hier, den Neonazis, die sich Wolfsburg wegen seiner Geschichte ausgesucht haben, zeigen, dass sie hier an der falschen Adresse sind. Wir dulden hier keine rassistischen Parolen.“ Mehr noch hoffe sie allerdings, dass es friedlich bleibt.

12 Uhr: Alarm an der Shisha-Bar

Was Christa Westphal-Schmidt sagt, denken die meisten. Ausnahmen gibt es auch. Der Marsch des schwarzen Blocks durch die Innenstadt, entwickelt sich zu einem unkontrollierten Sprint. 150 Autonome rennen los, Hundertschaften in schwerer Montur hinterher. An der Ecke Friedrich-Ebert-Straße/Rothenfelder Straße wird die Gruppe gestellt und eingekesselt.

Alles andere als chillig geht es jetzt hier unweit einer Shisha-Bar zu. Polizisten werden angegriffen, sagt die Einsatzleitung. Steine fliegen und treffen einen Beamten. Reizgas liegt in der Luft. Ein Beamter kauert hinter einem Bully. Er schüttet sich literweise Wasser in die rot geschwollenen Augen. Später wird er von Sanitätern in ein Wohnhaus begleitet. Ein Anwohner hatte das offenbar angeboten. Bis nach 16 Uhr ist die Rothenfelder Straße gesperrt. Die Polizei nimmt Personalien auf, jeder potenzielle Straftäter wird fotografiert.

15 Uhr: Samba-Protest, Innenstadt

Der regionsübergreifende Widerstand gegen den Neonazi-Aufmarsch zeigt sich am eindrucksvollsten an der Samba-Trommelgruppe, die sich in Sichtweite des Phaenos postiert hat. Ulrike Größler ist aus Gifhorn angereist, zwei Mitglieder von Samba-Attack aus Braunschweig und auch Mitglieder der IG Metall aus Wolfsburg, deren Trommelgruppe sich nach Simon Bolivar, dem südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer, benannt hat, machen mit.

Nur wenige Meter weiter, versuchen sich die eingetroffenen Neonazis um Veranstalter Dieter Riefling Gehör zu verschaffen. Größler und ihre sechs Mitspieler schlagen zu – immer auf die Pauke. Der musikalische Leiter, ein Mann in rosa Jeans, gibt den Takt vor, indem er immer wieder in eine Trillerpfeife bläst. Die stehengebliebenen Passanten klatschen im Rhythmus. „Menschenwürde statt Rassismus“, ruft Ulrike Größler aus voller Überzeugung. Von den Nazis ist nichts zu hören.

Wolfsburger Nachrichten, 2. Juni 2013